* Genussvoll mit der Heimatgeschichte beschäftigt
14.09.09 (Reilingen)
Gemeinde Reilingen, Freunde Reilinger Geschichte und BUND hatten zu einem geschichts- und geschichtenreichen Besuch der Kisselwiesen eingeladen / Interessanter Ausflug in eine alte Kulturlandschaft / „Wersauer Fladen“ vorgestellt
„Lobet den Herren“ erklang es am Sonntagnachmittag aus fast 200 Kehlen im Feldgewann in der Nähe der ehemaligen Burg Wersau bei Reilingen. So mancher Spaziergänger oder Radfahrer blieb irritiert stehen und rieb sich bei Ansicht eines historischen Jakobspilger (Emil Klefenz) verwundert die Augen. Nein, man war nicht in ein Zeitloch gefallen, sondern auf eine Veranstaltung anlässlich des bundesweiten „Tages des offenen Denkmals“ gestoßen, zu der die Gemeinde Reilingen, die Freunde Reilinger Geschichte und die BUND-Ortsgruppe gemeinsam in den Bereich der Kisselwiesen eingeladen hatten. „Wir wollen Ihnen heute einmal ein Kulturlandschaft der besonderen Art vorstellen“, hatte Bürgermeister Walter Klein bereits bei der Begrüßung der vielen interessierten Zuhörer erklärt. Was sich dahinter verstecken sollte, erläuterte dann Philipp Bickle, Vorsitzender der Freunde Reilinger Geschichte, anhand historischer Landkarten sowie zahlreicher alten Fotografien und Darstellungen. Dass es dabei auch um die ehemalige Burg Wersau gehen sollte, hatte bereits der Treffpunkt an der später hier stehenden Schlossmühle erwarten lassen. Wie vielfältig die Geschichte des Bereichs der Kisselwiesen aber wirklich ist, wurde im weiteren Verlauf des Nachmittags deutlich, der die Anwesenden quasi mit auf eine über 2000-jährige Zeitreise mitnahm. Zunächst erinnerte der Heimatforscher Otmar Geiger daran, dass einst zwischen Reilingen und St. Leon eine große Insel lag, die auf beiden Seiten von zwei Kraichbacharmen umflossen wurde. Bedeckt von einem Laubwald hätten bereits die Römer die strategisch günstige Lage genutzt, um in der Nähe der alten Römerstraße auf einer kleinen Anhöhe einen Burgus zu errichten. Später entstand an gleicher Stelle die Burg Wersau, die heute als „Burg unter der Grasnarbe“ viele Heimatfreunde in der ganzen Region faszinieren würde. Um die durch die neusten Forschungen bekanntgewordenen Ausmaße dieser bedeutenden Burganlage zu verdeutlichten, zeigte der der Architekt Oskar Harbicht vom Arbeitskreis „Burg Wersau“ mit Hilfe einer Wünschelrute den Anwesenden den Verlauf des ehemaligen Burggrabens sowie den Verlauf der wuchtigen Außenmauern.
Nur ein paar Schritte weiter wartete bereits Friedrich Auer, als Güteraufseher des Liegenschaftsamtes heute zuständig für den Bereich der Kisselwiesen. Er wusste zu berichten, dass in diesem Bereich im Jahre 1954 sogar der Versuch unternommen wurde, nach Erdöl zu bohren. Nach nur mäßigem Erfolg sei der Bohrturm aber wieder abgebrochen worden. Auer erinnerte aber auch an den ebenfalls misslungenen Versuch, im Bereich der Kisselwiesen wieder Störche anzusiedeln. „Es fehlt hier die nötige Ernährungsgrundlage.“ Erfolgreich sei aber dank eines intelligenten Bewässerungs- und Entwässerungssystems aus Gräben und sieben „Schließen“ (Schleusen) die Umwandlung des ehemaligen Waldgeländes in Wiesen und Biotopbereiche gewesen. Über Jahrhunderte hätten so die Bauern aus St. Leon hier ihr Heu gemacht. Dass die Heuernte auch noch heute wichtig zum Erhalt der Wiesen sei, machte Diplom-Agraringenieur Peter Geng in seinem Vortrag deutlich. Je nach Witterungsverlauf könne zwei- bis dreimal im Jahr gemäht werden. „Wenn das Gras die Höhe einer Bierflasche hat, ist der Gehalt am höchsten.“
Von einer unglaublich hohen Artenvielfalt im Bereich der Kisselwiesen berichtete Dieter Rösch von der BUND-Ortsgruppe Hockenheimer Rheinbogen. „Pro Hektar gibt es bis zu 40 verschiedenen Pflanzenarten.“ Er machte deutlich, dass die Wiesen ständig bewirtschaftet werden müssten, um einer Verwilderung und Neubewaldung entgegenzuwirken. „Jedes Mähen fördert immer wieder den Neuanfang einer Wiese.“ Rösch erinnerte daran, dass die Reilinger Kisselwiesen eine der wenigen zusammenhängenden natürlichen gewachsenen Grasflächen in der Region seien. Daher müsse ein umbrechen der Wiesen in Ackergelände unbedingt verhindert werden. Zwar hätten die Kisselwiesen einen gewissen Schutzstatus, das Ziel müsse aber sein, diese Kulturlandschaft zum Landschaftsschutzgebiet zu erklären.
Wie beliebt die Wiesen einst im Winter waren, erzählte Werner Hoffmann der erstaunten, vor allem jüngeren Teilnehmerschar. So seien in der kalten Jahreszeit die Kisselwiesen geflutet worden und nach der Vereisung sehr zum Missfallen der Müller in der Schlossmühle, denen jetzt das Wasser zum Mahlen fehlte, zum Schlittschuhlaufen verwendet worden. Außerdem habe man hier das Eis zum Einlagern in den Eiskellern von Reilingen, Hockenheim, St. Leon und der Burg Wersau gebrochen.
Zurück an der Kisselhütte stellten die Freunde Reilinger Geschichte zum Abschluss der diesjährigen Veranstaltung aus Anlass des Denkmal-Tages den „Wersauer Fladen“ vor. Nach einem erst jüngst entdeckten alten Rezept hatte der Reilinger Kreuzbäcker Jürgen Schieck das historische Würzbrot nachgebacken, das nach dem geschichts- und geschichtenreichen Spaziergang mit einem frisch geernteten Burghof-Apfel ganz besonders mundete. Auch eine Art, sich genussvoll mit der Heimatgeschichte zu beschäftigen.