Ein ganz besonderes Spiel
19.12.92 (Geschichten & Erzählungen)
Die Wochen im Dezember waren für mich auch in der schweren Zeit des letzten Krieges voller unbeschwerter Vorfreude und geprägt von erwartungsvollem Erleben. Großmutter und die zwei Großtanten, die in der Nachbarschaft wohnten und beinahe ständig bei uns waren, packten Pakete und schrieben Briefe, eilig tunkten ihre Schreibfedern wieder und wieder ins Tintenfass, kratzten über weiße Bögen und farbige Karten. Die drei beratschlagten und tuschelten, rechneten und betrachteten mit ernsten Gesichtern jene bunten, mit Strichen und Zahlen bedruckten Papiere, deren Abschnitte unsere Ernährung nur unzureichend sicherten. Alle Nahrungsmittel waren streng rationiert, nur gegen Marken dieser Papierkarten durfte der Händler Lebensmittel, aufs Gramm genau ausgewogen, abgeben.
Drei- oder viermal in diesen vorweihnachtlichen Tagen aber geschah es dennoch, dass der Postbote klingelte, um ein Paket von lieben Verwandten abzugeben. Sie alle, diese wohl verschnürten, in braunes Packpapier gehüllten Weihnachtspakete, schob Großmutter oben auf den Bücherschrank im großen Wohnzimmer, erst am Heiligen Abend, beim Schein der aus Resten selbst gegossenen Baumkerzen, durften sie geöffnet werden. Nur das Päckchen von Tante Ruth wurde gleich in der Küche ausgepackt. Tante Ruth war eine Pfarrersfrau, die half, wo sie nur konnte. Ihr Weihnachtspaket enthielt immer, so wussten wir aus vergangenen Jahren, neben ein paar netten Kleinigkeiten für Großmutter und die Tanten, neben einem Spielzeug für mich, eine harte Mettwurst, vielleicht ein Stückchen Speck oder Schinken, ein wenig Schmalz, eine Dose mit Kochwurst – Kostbarkeiten in jener Zeit.
Auch in diesem Jahr hatte Großmutter die nahrhaften Gaben entnommen und das Päckchen – nunmehr nur lose in sein Packpapier geschlagen – auf den Bücherschrank geschoben, nicht ahnend, in welch große Versuchung sie mich führte. Das halboffene Paket nämlich ließ mir hinfort keine Ruhe. Was mochte sich unter dem braunroten Papier für mich verbergen? Waren die anderen Pakete verschnürt, somit sicher vor heimlicher Nachschau, so harrte mit dem Päckchen von Tante Ruth dort oben auf dem Bücherschrank eine riesige Verlockung, eine Anfechtung, der ich kaum gewachsen war. Wie aber und wann das Geheimnis lüften?
An einem nebligtrüben Adventssonntag, hatten die Tanten und Großmutter die weißgrauen Haare mit der Brennschere in ansprechende Wellen gelegt und die Gummigaloschen über die Halbschuhe gestreift. Dann waren sie losgegangen zur Weihnachtsfeier des Kirchenchores. Ein wenig zauderte ich, doch die Neugier besiegte die Gewissensnöte. Ich stieg auf einen Stuhl, holte entschlossen das nur lose eingeschlagene Paket vom Schrank, öffnete es auf dem Fußboden – und war maßlos enttäuscht: Wollenes und Besticktes, Gestricktes und Gehäkeltes fand ich für die Tanten und für Großmutter, für mich aber barg das Paket ein Spiel, ein Würfelspiel über Flugzeuge des Dritten Reiches. Doch Spiele stapelten sich in meinem Schrank, Würfelspiele, die sich mit Panzern im Wüstensand und Luft- oder Seekriegen beschäftigten.
Gelangweilt hob ich den Deckel des Kartons ein wenig an, fand einen bunten Spielplan, farbige Figuren, Würfel und – war plötzlich fasziniert, wie elektrisiert: Auf dem Spielplan lag ein Cellophanumschlag, in dem sich eine mir gänzlich unbekannte, schwarze, krümelige Masse wölbte. Natürlich nahm ich mir nicht die Zeit zum Studium der Anleitung, ein Spiel aber, zu dessen Ausstattung dieses mir völlig fremde schwarze Gekrümel zählte, fürwahr, das musste ein ganz besonderes Spiel sein!
In den nächsten Tagen dachte ich in der Schule und bei Spiel, Weihnachtsbastelei und Holzhacken an kaum anderes als an jenes Würfelspiel, zu dem in großem, durchsichtigem Kuvert diese sonderbare krüselige Substanz gehörte, die ich nie zuvor gesehen hatte. Wir diskutierten auf dem Schulhof, in den Pausen, doch keiner meiner Klassenkameraden kannte ein Würfelspiel, dem der Hersteller eine Tüte mit einer höchst rätselhafte schwarze Krümelmasse beigepackt hatte. Selbst beim Krippenspiel während der Christmette, bei dem ich den Josef spielte, kreisten meine Gedanken um jenes Würfelspiel.
Dann war es soweit. Nach dem Gottesdienst hatten wir in der Küche ein wenig gegessen, Großmutter und die Tanten verschwanden sodann im kleinen Wohnzimmer, und ich wartete im Flur auf das Läuten des Glöckchens, das nur einmal im Jahr für wenige Augenblicke in Aktion trat. Endlich! Das kleine Zimmer erstrahlte im warmen Licht der Kerzen, die Tanten und Großmutter machten feierliche Gesichter und stimmten die schönen alten Lieder an. Natürlich sang ich mit, doch meine Gedanken kreisten um das Würfelspiel.
Endlich! Meine Großmutter nickte mir zu – ich durfte auspacken. Sicher war es das schlechte Gewissen, das mich zuerst nach einem anderen Päckchen greifen ließ. Ich hörte artig zu, als Großmutter den langen Brief einer Cousine vorlas, der in dem Paket gelegen hatte, dachte an das Spiel und betrachtete oberflächlich den Pullover, den die Cousine der Tanten mir zugedacht hatte. Dann erst schob ich das braune Packpapier, das jenes absonderliche Würfelspiel umhüllte, beiseite, reichte Großmutter und den Tanten Gestricktes und Besticktes, hörte wiederum geduldig zu, als Tante Ruths Brief, diesmal von Tante Auguste, verlesen wurde und griff endlich zu jenem Würfelspiel, um das in den letzten Tagen meine Gedanken beinahe ununterbrochen gekreist hatten.
Wie unschlüssig betrachtete ich den Cellophanumschlag, in dem sich die mir so unbekannte schwarz-krüselige Masse wölbte – gleich würde ich den Spielplan studieren. Aber es kam ganz anders: Tante Auguste war es, die auf das durchsichtige Kuvert schaute, mir den Umschlag dann wie selbstverständlich aus der Hand nahm, genau hinsah, ihn öffnete, die Nase hineinhielt und ihn sodann beinahe triumphierend schwenkte: „Wie Ruth das nur immer wieder schafft in diesen schweren Zeiten“, sagte sie zu den Schwestern, „jetzt hat sie sogar echten schwarzen Tee besorgen können und ein Tütchen in das Würfelspiel für den Jungen gelegt – ach, wie freue ich mich! Wenn wir haushalten und zweimal aufgießen, reicht der Tee bestimmt für zehn Tassen!“