Hildegard – die mysthische Medizinerin
19.07.88 (Glaube & Religion, Kirchen & Klöster)
Im 12. Jahrhundert drängten vor allem adlige Frauen verstärkt in die kirchlichen Orden. Bereits um 1200 mußten die Klöster
Zulassungsbeschränkungen erlassen. Religiöse Sehnsucht, Frauenüberschuß, materielle Absicherung und ein von Männern unabhängiges Leben mit der Möglichkeit, sich frei zu entfalten, werden heute in der Wissenschaft als Antrieb für diese mittelalterliche „Frauenbewegung“ genannt.Mit Elisabeth von Schönau und Hildegard von Bingen begann in Deutschland eine Nonnenmystik, die von männlichen Zeitgenossen gerne in die Nähe der Ketzerei gerückt wurde. Schließlich wuchsen damals nicht nur die Orden der Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen im Rahmen einer kirchlichen Reformbewegung, sondern in den Städten auch die Laienorden der Beginen und die dualistisch gesinnte „Ketzerkirche“ der Bogomilen und Katharer.
Doch im Zentrum der ersten Hildegard Visionen, die sie 1141 bis 1151 in dem Buch „Scivias“ (Wisse die Wiege) niedergeschrieben hat, steht die Kirche: „Danach sah ich ein Weib von so hoher Gestalt, daß es wie eine große Stadt anzuschauen war. Sein Haupt war mit wunderbarer Zier gekrönt. Von seinen Armen ging, herabfallenden Ärmeln gleich, ein heller Glanz aus, der vom Himmel bis zur Erde niederstrahlte.“
Diese Darstellung ist kein Wunder in einer Gegend, die aus gallo römischer Zeit den Matronenkult kannte und ihn in Sage und Legende von den drei Jungfrauen in die Volksfrömmigkeit des Mittelalters hinüber gerettet hat – auch gegen den erklärten Willen der Amtskirche.
Kein Wunder auch, daß die beiden ersten Klöster, in denen Hildegard wirkte, Disibodenberg am Zusammenfluß von Nahe und Glan und Rupertsberg am Zusammenfluß von Nahe und Rhein, an Orten liegen, die noch zu keltischer Zeit als heilig und damit später als magisch galten.
Geboren wurde Hildegard 1098 als zehntes Kind einer Adelsfamilie im später kurpfälzischen Bermersheim bei Alzey. Der romanische Chorturm der dortigen Kirche stammt aus dieser Zeit. Erzogen wurde sie bei der Klausnerin Jutta von Sponheim auf dem Disibodenberg bei Odernheim, wo sie auch zwischen 1112 und 1115 ihr Gelübte ablegte. Mit 42 Jahren erlebte sie hier den Durchbruch ihrer Visionen, die 1147/48 von Papst Eugen III. auf einer Synode in Trier anerkannt wurden.
Zur gleichen Zeit gründete sie das Kloster Rupertsberg in Bingerbrück, wohin sie 1151 übersiedelte. 1165 erwarb sie schließlich das heute noch bestehende Kloster St. Hildegardis bei Rüdesheim.
Neben weiteren theologisch visionären Werken, mehreren Predigreisen und einem umfangreichen Briefwerk schrieb Hildegard auch naturkundlich medizinische Werke, in denen sich Vorstellungen der antiken Medizin (Säftelehre, Kosmologie) mit eigenen Beobachtungen (die Giftigkeit mancher Pflanzen oder der Fischfauna in der Nahe) und den guten Kenntnissen der seit 820 in St. Gallen gepflegten Tradition der Klostergärten mischte. So beschrieb sie beispielsweise die Wirkung der Petersilie „gegen heftiges Fieber, Herz und Milzschmerzen sowie Seitenstechen, Verdauungsbeschwerden; als Trank gegen Steinleiden;
äußerlich in Form einer Salbe gegen Lähmungserscheinungen und gichtige Schmerzen“. Die diuretische und menstruationsfördernde Wirkung des ätherischen Öls ist heute anerkannt. Damit zusammen hängt sicher auch die Tatsache, daß es früher als Abtreibungsmittel verwendet wurde.
In unseren Tagen ist Hildegard aber nicht nur als Theologin und Ärztin, sondern auch als Komponistin wiederentdeckt worden. Neben dem musikalischen Drama „Ordo virtutem“, das den Kampf zwischen Tugend und Teufel in einer weiblichen Seele beschreibt, hat sie in der „Symphonie der Harmonie der himmlischen Beziehungen“ 77 liturgische Gesänge hinterlassen.