Alte Schriften wieder lesen können
28.01.10 (Reilingen)
„Freunde Reilinger Geschichte“ bieten erstmals einen Kurs für Schriftenkunde an / Familien- und Heimatgeschichte wird dadurch erst so richtig lebendig / Aber: Nur Übung macht den Meister
Reilingen.- Wie gerne würde man doch die Briefe vom Uropa, von der Großtante die Eintragungen ins Rezeptbüchlein oder gar die Familiengeschichte in der alten Bibel lesen können – aber nur noch die wenigsten Zeitgenossen von heute sind überhaupt in der Lage, diese alte Handschriften zu entziffern. Gut ist, dass man diese Technik erlernen kann: Entweder im Selbststudium anhand von Büchern und anderen Anleitungen, oder – was noch viel besser ist – in einem Kurs gemeinsam mit anderen. Diese Möglichkeit bieten derzeit die „Freunde Reilinger Geschichte“. Gerade im Vorfeld der 725 Jahr-Feier und den andauernden Forschungsarbeiten rund um die Burg Wersau wurde deutlich, wie schwierig es für die meisten ist, die alten Archivalien und Texte zu lesen. Für Philipp Bickle, den rührigen Vorsitzenden des Heimatvereins, Grund genug, spontan die Freunde der Burg Wersau, aber auch alle andere interessierte Heimatfreunde, zu einem kleinen Seminar rund um die Schriftkunde einzuladen. Das Interesse war sofort so groß, dass bei weitem nicht alle Anmeldungen für den ersten Kurs berücksichtigt werden konnten. Daher wird es nach Ende der ersten Lehreinheit einen weiteren Paläographie-Kurs im Saal des Reilinger Heimatmuseums geben. Dort treffen sich inzwischen alle zwei Wochen die Kursteilnehmer in einer überschaubaren Gruppe, um die Kurrentschrift (sie war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die übliche Handschrift in Deutschland, zudem auch Amts- und Protokollschrift) zu erlernen. Gleich zu Beginn des Kurses, der sechs Abende umfasst, machte Philipp Bickle deutlich, dass diese Schrift umgangssprachlich, aber fälschlicherweise oft als Sütterlinschrift bezeichnet werde. Dies sei jedoch eine vom Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 entwickelte, der Kurrentschrift sehr ähnliche, aber eigenständige Schriftart. Als Schulschrift wurde sie dann bis 1941 gelehrt, dann aber zu Gunsten der einheitlichen lateinischen Schrift, der deutschen Normalschrift, wieder abgeschafft.
Wie spannend und unterhaltsam das Entzifferung alter Schriften, die Auflösung von Abkürzungen und die Entwicklung der Schrift sein kann, wird an den Kursabenden immer wieder deutlich. Und da die zu bearbeitenden Texte auch immer einen lokalen Bezug und zur Heimatgeschichte haben, macht die ganze Sache noch interessanter. Ob man nun gemeinsam ein Testament eines Bauern in den Händen hält, in einem alten Rezeptbüchlein liest oder auch schon mal nicht ganz jugendfreie Texte des Berliners Heinrich Zille entziffert – die Lernerfolge werden von Abend zu Abend deutlicher. Erfolg wird aber nur derjenige Kursteilnehmer haben, der sich an die Vorgabe von Philipp Bickle hält, der als ehemaliger Konrektor der Lußhardtschule in Neulußheim heute noch weiß, worauf es beim erfolgreichen Lernen ankommt: „Üben, üben und nochmals üben.“
Diese Erfahrung haben auch die Teilnehmer des ersten Paläographie-Kurses der „Freunde Reilinger Geschichte“ gemacht. Für sie ist es bereits nach wenigen Stunden eine großes Vergnügen, sich intensiv mit alten Texten beschäftigen zu können. Und nicht selten werden dann auch eigene Schätze in Form von Briefen und Familiendokumenten mit ins Heimatmuseum gebracht, um dort im großen Kreis an der Lösung besonders schwieriger Fälle zu arbeiten. Und dabei lernen die Kursteilnehmer auch den Menschen näher kennen, der vor einhundert oder mehr Jahren die Feder führte und den Eintrag zu Papier brachte. In den meisten Fällen ist die Schrift am Anfang klar und deutlich, oft wirkt sie sogar wie gedruckt. Aber je länger das Schreiben dauerte, wurde die Schrift, so Philipp Bickle, meistens nach der dritten, vierten Seite „richtig schnuddelig“. Und dann könne man als Leser oft nur noch mit viel Geduld, Glück und Schriftvergleichen das Dokument entziffern. Aber für die meisten Kursteilnehmer ist es gerade dieses kriminalistische Arbeiten, was ihnen so viel Spaß bereitet. Und am Ende steht für alle schließlich der besondere Lohn: Endlich einmal in den alten Briefen des Uropas oder im Rezeptbüchlein der Großtante lesen zu können. Dann werde, so die Kursteilnehmer übereinstimmend, die Familien- oder Heimatgeschichte erst so richtig lebendig.