Kummer und Not zur Jahreswende 1945/46
23.12.95 (Geschichte allg.)
Ein Jahr ging zu Ende, das einmal in die Geschichte eingehen
würde: Trauer um Millionen von Gefallenen und Toten durch die
Kriegseinwirkungen, Angst um die unzähligen Verschollenen, Sorge
ums tägliche Überleben. Die Angst um das Verhungern wird
gemildert durch das Glück, überhaupt überlebt zu haben.
Wiedersehensfreude und die Hoffnung auf eine bessere Welt prägten
die Gefühle am Jahreswechsel 1945/46 überall in der Kurpfalz.
Nur wenige Zeitungen erschienen zum ersten Silvester nach Ende
des 2. Weltkrieges und auf den wenigen Seiten war immer wieder zu
lesen, daß sich die Menschen „vom Ungeist des Nationalsozialismus
und Militarismus“ zu trennen hätten. In der Rhein-Neckar-Zeitung
forderte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss die Leser auf,
daß das „neue Jahr das Volk an der Arbeit sehen“ möge und „die
Grundlagen für eine bessere Zukunft zu schaffen“.
Im „Schwetzinger Morgen“ war von den Wünschen der Bürger zu
lesen: „Gar soviele erhoffen sich endlich Klarheit über das
Schicksal der vielen Vermißten und wünschen ihnen und den bereits
als gefangen ermittelten Soldaten eine baldige, gesunde Heimkehr.
Andere gehen in Richtung des Aufbaues oder der Bedachung halb
zerstörter Häuser. Dazu kommen noch zahlreiche Gedanken und
Hoffnungen bezüglich der Sicherung einer beruflichen Existenz.“
Trotzdem schließt der Verfasser damit, daß „Tränen, Kummer und
Not wohl noch lange unsere ständigen Begleiter sein werden“.
Wer sich nicht dank eigenem Land oder Vieh selbst versorgen
konnte, gute Beziehungen, etwas zum Tauschen oder
Organisationstalent hatte, für den blieb Schmalhans noch lange
Küchenmeister. Daß es bald wenigstens ein bißchen mehr zu essen
geben könnte, ließen Berichte über die Entwicklung der
zugewiesenen Lebensmittelmengen hoffen. So verdoppelte sich etwa
die einem Normalverbraucher über 18 Jahren zustehende Brotmenge
von 5.600 auf 11.450 Gramm im Monat. Die Fleischration
vergrößerte sich auf 440 Gramm ebenfalls pro Monat.
Lebensmittel waren denn auch am begehrtesten auf dem blühenden
Schwarzmarkt. Und mancher machte auch mit heißer Ware gute
Geschäfte solange ihn die Ordnungshüter nicht schnappten. Ein
Erfolg des Hockenheimer Landpolizeiposten wurde beispielsweise
Ende Januar 1946 vermeldet. So wurde ein Mann aus der Nähe von
Sinsheim geschnappt, der mit einem Fahrrad und zwei beladenen
Handwagen unterwegs war. In der Nähe des damaligen Bahnhofs
Talhaus versuchte er, allerlei an den Mann und die Frau zu
bringen. Die Polizisten stellten vier geschlachtete Gänse, drei
Hühner, zehn Pfund Zucker, ein Pfund Butter, über 400 Zigaretten,
224 Fingerringe, 36 Schlüsselketten und 12 Paar Damenstrümpfe
sicher. Ein Tag später hingen überall in der Stadt warnende
Flugblätter an den Wänden: „Wer gestohlene Sachen kauft, macht
sich der Hehlerei schuldig!“
Als „Sünde an der Heimat“ wurde in einer anderen Ausgabe des
„Schwetzinger Morgens“ der Holzdiebstahl aus dem nahen Hardtwald
und aus öffentlichen Anlagen angeprangert. Dies galt vor allem
für die Menschen, die immer wieder in den Schwetzinger
Schloßgarten eindrangen und dort „an völlig gesunden Bäumen auf
grobe Art Äste entfernten“.
Als vorbildlich gelobt wurde dagegen eine fürsorgliche Aktion der
örtlichen Gastwirte, deren Gäste nicht wie sonst üblich ein
Brikett oder einen Holzscheit mitzubringen brauchten. Sie
besorgten sich gemeinsam Brennholz über das Forstamt im
Hardtwald, damit dem Gast „nicht nur ein gutes Glas Bier oder gar
Glas Wein, sondern auch ein warmes Lokal zur Verfügung steht“.
Ablenkung von den Sorgen bereiteten zu jener Zeit unter anderem
Filme, Konzerte und Theateraufführungen. So freuten sich in
Schwetzingen die Menschen über eine Aufführung von Bernhard Shaws
„Candida“ durch eine Theatertruppe der US-Armee und in Hockenheim
führte ein Laientheater in der „Rose“ zur Fastnachtszeit den
Schwank „Die spanische Fliege“ auf. In Reilingen kam der Erlös
eines nach Dreikönig gezeigten Lustspieles den Kriegsgefangenen
und deren Familien zugute. Nicht nur wegen des guten Zwecks
sprach dieses ein breites Publikum im Saal des „Engels“ an,
sondern wohl auch wegen des Titels „Arm wie eine Kirchenmaus“.
Geschmuggelter Wein und falsche Leberwurst
Nicht nur an den Festtagen biegen sich bei den meisten Menschen
der heutigen Zeit die Tische unter der Last der Leckereien. Die
Not leidender Menschen wenn auch manchmal mitten unter uns
scheint weit entfernt zu sein, man will leben. Im strengen Winter
1946 mit Temperaturen von unter minus 15 Grad, die die Kraichbach
und auch das Wasser im Waschlavoir in der ungeheizten Wohnung
zufrieren ließen, und Schneehöhen, von denen Kinder heute nur
noch erstaunt hören, konnten die meisten Menschen selbst von
einem einfachen Mahl nur träumen. Selbst Fastnacht wurde wenn
überhaupt nur bescheiden gefeiert.
Georg Zahn aus Hockenheim hatte ebenso wie zwei seiner Kameraden
das Glück, schon aus der amerikanischen Gefangenschaft
heimgekehrt zu sein. Darauf wollten die jungen Männer natürlich
am liebsten mit einem Glas Wein anstoßen. Wo aber sollte man zu
dieser Zeit in Hockenheim Wein herbekommen? Dank der im
Kriegsgefangenenlager geschlossenen Freundschaft zu einem Winzer
aus Rauenberg sollte es kein Problem sein, an den Wein zu kommen.
Wohl aber der Transport, denn wie die Lebensmittel in den Läden
war auch der Wein von der US-Militärregierung in Weinheim
beschlagnahmt worden.
Die drei Hockenheimer wären keine Hockenheimer gewesen, hätten
sie nicht eine Möglichkeit gefunden, doch noch an den Wein zu
kommen. „Wir haben unserem Freund Arm und Kopf verbunden und ihn
auf eine Trage gelegt“, wußte Oskar Haas die Geschichte immer
wieder lebendig zu erzählen. Da von einem Arzt „Seuchengefahr“
attestiert worden war, gelang es dem Trio, an einen
MilitärSanitätswagen zu kommen, der damals für die
Zivilbevölkerung eingesetzt worden war.
So kam man unbehelligt von den vielen Straßenkontrollen über
Reilingen, Walldorf und Wiesloch nach Rauenberg. Spät in der
Nacht wurden drei Kisten „1941er Mannaberg Riesling“ verladen und
unter dem „Kranken“ versteckt, der nun auf umgekehrtem Weg seine
Reise in das Hockenheimer Krankenhaus antreten sollte. Wiederum
kam man ohne Probleme durch die Sperren, denn vor Krankheiten
oder gar Seuchen hatten die GIs an den Kontrollen eine panische
Angst: „Ein kurzer Blick auf das Arztschreiben genügte und wir
wurden sofort weitergeschickt“. In Hockenheim angekommen, wurden
die Flaschen sofort geöffnet und zur Freude vieler Stammgäste im
„Grünen Baum“ ausgeschenkt.
Das Faible eines reichen bayerischen Molkereibesitzers für den
Wein aus dem Kraichgau, den er während seiner Studienzeit in
Heidelberg kennengelernt hatte, kam dem Reilinger Heinrich Krämer
zugute. Krämer hatte nach seiner Flucht aus einem
Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Innsbruck für einige Zeit
in der Molkerei in Memmingen gearbeitet. Heimgekehrt nach
Reilingen, nahm er Kontakt auf mit einem Winzer in Malsch. Immer
wieder habe er die Reise nach Memmingen angetreten, erinnerte
sich Krämer und erzählte von den überfüllten Zügen: „Die Menschen
hingen wie Trauben sogar draußen auf den Trittbrettern und ich
stand mit 20 Flaschen Wein im Rucksack auf der untersten Stufe.
Den ganzen Weg hatte ich mehr Angst, abzustürzen, als von der
Polizei kontrolliert zu werden“. Für jede Flasche gab es ein
Pfund Butter, die dann teilweise wieder in Mehl oder andere Güter
des täglichen Bedarfs eingetauscht wurde.
Aus nichts etwas einigermaßen Schmackhaftes zu zaubern das war
die Kochkunst dieser mageren Jahre. Die Not machte auch in
Hockenheim erfinderisch und so reichte man unter der Hand ein
„Geheimrezept“ weiter, wie man ohne Leber oder Fleisch eine
ErsatzLeberwurst herstellen konnte. Dabei schwörte jeder Ort in
der Kurpfalz auf „sein“ Rezept. Es gab zahlreiche Varianten für
falsche Leberwurst, am beliebtesten in der Region um Hockenheim
aber war die „Leberwurst“, die aus einer Mehlschwitze mit Wasser
und etwas Milch hergestellt wurde. In diese Masse wurde Hefe
gegeben und mit Salz, Pfeffer und vor allem viel Majoran gewürzt.
Und das Essen wurde dann zu einer Delikatesse, wenn es dazu
Sauerkraut gab. (og)