Obstbäume wurden bei Nacht gefällt
21.01.98 (Geschichten & Erzählungen, Landschaft & Orte, Recht & Ordnung, Städte & Gemeinden)
Reilingens nördlichstes Baugebiet ist der „Holzrott“ mit den Straßen In der Holzrott, Adolph-Ritzhaupt-Straße und dem Jargeauring. Während die beiden letzten an den ersten Ehrenbürger der Gemeinde und die französische Partnergemeinde an der Loire erinnern, verweist die erstgenannte Straße nochmals auf das frühere Gewann „Holzrott“.
Bis 1819 stand hier ein Eichen und Forlenwald, den sich Hockenheim und Reilingen miteinander teilten. Obwohl zwei Drittel des Waldes den nördlichen Nachbarn gehörte, war der Boden klar in Reilinger Besitz. Der Wald erstreckte sich auf rund 32 Hektar beiderseits der heutigen L 599 bis hin zum Kraichbach. Noch 1779 hatte das Churfürstliche Hofgericht Hockenheim das Recht bestätigt, seinen Anteil „durch einen Schützen begehen zu lassen, aber die Strafen sind vom
Gericht in Reilingen zu decredieren“. Kurze Zeit später wurde das Recht dahingehend erweitert, auch Feldfrevler aus Reilingen zu bestrafen und die Strafen einzuziehen. Um den Besitz und die Rechte zu dokumentieren, setzte Hockenheim zahlreiche Grenzsteine.
Der schwehlende Streit wurde dann 1818 akut, denn beide Gemeinden wollten ihren Holzrottwald fällen und in Ackerland umwandeln. Hockenheim ging dabei sogar noch ein Stück weiter und beantragte beim Großherzoglichen Amt in Schwetzingen, den eigenen Waldteil auch in die Gemarkung „einzuverleiben“. Im Juni 1818 versuchte der Oberamtmann aus Schwetzingen eine Einigung herbeizuführen und ludt die Kontrahenten zu einem Ortstermin in den Holzrottwald ein. Trotz intensiver Bemühungen kam es zu keinem Ergebnis. In Reilinger Gerichts(Gemeinderats)protokollen ist zu lesen, daß man werde „nie einwilligen, weil es gerade wäre, als wollte man ihnen das Herz nehmen“.
Die Angelegenheit wurde dem Directorium des Neckarkreises zur Entscheidung vorgelegt. Trotz der Fürsprache durch den Oberamtmann in Schwetzingen wurde der Hockenheimer Antrag von der Mannheimer Behörde abgelehnt. Gegen diese Entscheidung erhob Hockenheim dann 1819 Widerspruch beim „Großherzoglichen Höchstpreißlichen Ministerium des Innern“ in Karlsruhe. Aber auch hier versagte man „einer Losreißung aus der Gemarkung Reilingen und Einverleibung in die Gemarkung Hockenheim“ die Genehmigung.
In der Zwischenzeit waren mehr als 80 Jahre vergangen, doch an den Stammtischen beider Gemeinden blieb der Holzrottstreit lebendig. Und nicht selten sorgte der Streit um dieses Thema für Schlägereien auf den Kerwen in Hockenheim und Reilingen. Über Nacht wurde die Angelegenheit aber plötzlich wieder aktuell. Mit einem „Geheimkommando“ rückte Reilingens Bürgermeister Bernhard Eichhorn in einer Nacht des Jahres 1901 aus und ließ alle Bäume rechts und links der Straße nach Hockenheim bis zur Gemarkungsgrenze fällen. Die Obstbäume entlang der Straße mußten von der Gemeinde Reilingen unterhalten und geerntet werden, der Ertrag aber mußte nach Hockenheim abgeliefert werden.
Im Rathaus der jungen Stadt war man empört und erhob vor der Vierten Civilkammer des Civilgerichts Mannheim Klage gegen die Nachbargemeinde. Das Gericht verurteilte Reilingen zum Schadensersatz. Für die gefällten acht Obstbäume mußten 549 Mark an die Stadtkasse Hockenheim als Entschädigung bezahlt werden. Zur Schadenfreude der Reilinger mußte aber Hockenheim 84 Prozent der Kosten des Rechtsstreites übernehmen.
Noch heute ist die Stadt Hockenheim Eigentümer des Zwei-Drittel-Anteils und zahlt dafür Grundsteuer nach Reilingen. An den Stammtischen wird immer wieder mal dieses Thema aufgegriffen, denn „die Reilinger hatten“, so steht es im aktuellen Heimatbuch zu lesen, „stets das Gefühl, daß sie in der Holzrottsache übervorteilt und hereingelegt wurden.“