Von Kerweborscht und Kerweschlumpel
15.09.99 (Brauchtum & Tradition, Geschichte allg.)
Wird in der Kurpfalz von der “Kerwe” gesprochen, huscht zumeist ein Strahlen über die Gesichter. “Ja, Kerwe ist bei uns noch immer einer der höchsten Feiertage im Jahr”, berichten die Menschen rechts und links des Rheines und sehen in diesem volkstümlichen Fest eine jener Traditionen, die noch heute eine Gemeinsamkeit der Menschen in der Kurpfalz darstellen.
Dabei gibt es “die Kerwe” eigentlich gar nicht. Sie ist vielmehr ein Zusammenschluß der verschiedensten Dorffeste aus den letzten Jahrhunderten. Vor rund 200 Jahren wurden das Erntefest, das Weinlesefest und das Erntedankfest ebenso gefeiert wie das Kirchweihfest oder das Kartoffelfest. Die Menschen hatten immer einen Grund, um ein Fest zu feiern, meistens wegen der Landarbeit oder den kurfürstlichen Frondiensten aber keine Zeit. Der kurpfälzische Begriff „Kerwe“ leitet sich von „Kirchweihe“ ab. Im Mittelalter war der Tag der Kirchweihe gleichzeitig das Gemeindegründungsfest. Zweckmäßig wurde die Kirchweih jedes Jahr im Herbst gefeiert, wenn das landwirtschaftliche Jahr zu Ende ging, die Löhne ausgezahlt und die Arbeitsverhältnisse gelöst waren.
Die Kerwe brachte wenigstens Abwechslung in den oft tristen Arbeitsalltag der Bauern und Handwerker. Die zu dieser Zeit im Ort anwesenden umher ziehenden Marketender (Händler) handelten schließlich nicht nur mit Gebrauchsgegenständen, sondern auch mit Nachrichten. Tagelang wurde gefeiert, und zwar so ausgiebig, daß im Jahr 1830 alle Kirchweihen in Baden per Dekret einheitlich auf einen Oktober Sonntag gelegt wurden. Dem „wochenlangen Müßig Gang von Kirchweih zu Kirchweih“ wurde so ein Ende gesetzt.
Eine Hauptrolle in der kurpfälzischen Kerwetradition spielt die „Kerweschlumpel“. Mit ihr wurde seit alters her die Kerwe eröffnet. Die Schlumpel ist eine Puppe eindeutig weiblichen Geschlechts. Ein „Kerwepfarrer“ und seine „Kerweborsch“ bringen sie noch heute zu einer „Kapelle“, einem Wirtshaus nicht unähnlich. Dort wird sie für die Dauer der Kerwe in luftiger Höhe aufgehängt. Es war ständige Wachsamkeit notwendig, denn die „Borscht“ (Burschen) aus den Nachbargemeinden warteten nur auf eine günstige Gelegenheit, die Kerweschlumpel zu entführen. Reichlich Alkohol mußte dann als Lösegeld fließen. Mit der Verbrennung der Kerweschlumpel fand das Treiben am Montagabend dann sein Ende.
Berühmt, berüchtigt und beliebt zugleich war der Kerwe Tanz in den Wirtschaften, wo die Tanzböden auf Hochglanz poliert waren. Die Jugend widmete sich intensiv dem eigenen Erscheinungsbild, denn die Kerwe galt lange Zeit als beliebter Heiratsmarkt. Alle erdenkliche Vorsicht war deshalb bei der Wahl des Tanzpartners geboten. Wer einmal zusammen getanzt hatte, galt fortan als Brautpaar.
Kerwe war zugleich auch ein Fest der ganzen Familie. Auf das gute Essen war die Hausfrau besonders stolz, denn wenn einmal „Städter“ unter der Verwandtschaft zu Besuch kamen, mußte man schließlich zeigen, was man sich leisten konnte. Dabei durfte der Kerwekuchen, meist ein dünner Hefekuchen mit Äpfel oder Zwetschgen belegt, nicht fehlen. Da in den meisten Häusern nicht selbst gebacken werden konnte, durften die Kinder den Kuchen zum Bäcker tragen.
Den Kerwefreuden konnte aber nur derjenige gelassen entgegensehen, der über das notwendige Kleingeld verfügte. Der hart erarbeitete Lohn wurde an den zahlreichen Buden, Ständen, Karussells mit Pferden und Schwänen, Schiffschaukeln und den Gutselständen umgesetzt.
Interessanterweise war es schon immer die ländliche Kerwe, die auch die Städter hinaus in die Dörfer lockte. Lieder singend pilgerte man durch herbstliche Wiesen und Felder hinaus aufs Land. Das sommerliche Residenzstädtchen Schwetzingen war vor allem für die Mannheimer Hofbediensteten und Beamten zu einem beliebten Ausflugsziel geworden. Mit Pferdekutschen, Ochsenfuhrwerken oder auch nur zu Fuß erreichte man über den “churfürstlichen Damm”, der heutigen Relaisstraße in Rheinau, die kleine verschlafene Stadt, wo so mancher wieder seine Liebste oder die “Kinder aus der zweiten Hand” traf.
Gerade in der Biedermeierzeit muß es in Schwetzingen während der Kerwe lauschig zugegangen sein. Wie schrieb die “Mannheimer Zeitung” 1824: „Wem’s hier behagt, der setzt sich zu Tische und blickt nach dem herrlichen Schloß mit seinem unübertroffenen Garten. Doch plötzlich erschallt ein leichter geflügelter Walzer und es schwärmen die Tänzer hinein. Dann schreitet man fröhlich die Treppe hinab in das freundliche, liebliche Städtchen“.
Während den Kriegs- und den folgenden Notzeiten fiel die Kerwe in der Kurpfalz immer wieder aus, aber sobald es den Menschen besser ging, kehrte man zurück zu dem liebgewordenen Brauch. Nach dem 1. Weltkrieg aber erwachte die alte Tradition nur sehr zögerlich wieder zum Leben. Und nach 1945 schien sie gar eingeschlafen zu sein. Doch zu Beginn der 60er Jahre erwachte die Kerwe plötzlich wieder aus ihrem Dornröschenschlaf. Landauf, landab erinnerten sich Heimat oder Kerwevereine, Gesangs oder Musikvereine an den einstigen Brauch. Heute gehört die Kirchweih zum Jahresablauf wie Fastnacht, Ostern oder Weihnachten. Ein gutes Stück kurpfälzische Tradition lebt weiter – egal ob nun in der Pfalz, im Badischen oder in Hessen. Und das ist gut so, denn so führt ein Stück gemeinsame Vergangenheit in die Zukunft eines noch unbekannten Jahrtausends. (og)