* Wenn die Kerweborscht mit der Schlumpel …
05.10.07 (Hockenheim)
Erinnerungen an 250 Jahre Kerwe in Hockenheim / Traditionsveranstaltung neu belebt / Einst Mischung zwischen Volksfest, Markt und Brautschau
Vor 250 Jahren beendete ein lautes Knacken wochenlange Pein, das Übel wurde an der Wurzel gepackt und landete als fauler Zahn im Staub des Hockenheimer Kirchplatzes vor St. Georg. Ein paar Kupfermünzen musste der schmerzbefreite Hofbauer für die Operation in öffentlicher Sitzung berappen. Zufrieden strich der Bader, der mit einer Zange genauso geschickt wie mit Kamm und Schere umgehen konnte, das Geld ein. Nur wenige Meter weiter rissen im Hof des „Güldenen Engels“ derweil Gaukler ihre Possen, auf dem „Gscherrplätztl“ bot fahrendes Volk seine Waren feil, Bratenduft kitzelte den Gaumen, Musikanten forderten zum Tanz auf. Es war ein schöner Herbsttag anno 1757. Die Ernte war eingefahren, es war die Zeit der Kerwe, dem alljährlichen gesellschaftlichen Höhepunkt im Leben des kleinen kurfürstlichen Grenzdorfes an der unteren Kraich.
Der kurpfälzische Begriff der „Kerwe“ leitet sich von dem Wort „Kirchweihe“ ab. Im Mittelalter war der Tag der Kirchweihe gleichzeitig das Gemeindegründungsfest, das meist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bau der örtlichen Kirche und deren Patronat stand. Kerwe wurde jedes Jahr im Herbst gefeiert, wenn das landwirtschaftliche Jahr zu Ende ging, die Löhne ausgezahlt und die Arbeitsverhältnisse gelöst waren. Zeit genug, die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen. Das Volksfest brachte Abwechslung in den oft tristen Arbeitsalltag der Bauern, Handwerker und zumeist leibeigenen Tagelöhner. Die im Ort zu dieser Zeit anwesenden Marketender, die durch das ganze Land zogen, handelten schließlich nicht nur mit Gebrauchsgegenständen, sondern auch mit Nachrichten.
Tagelang wurde gefeiert, und zwar so ausgiebig, dass im Jahr 1830 alle Kirchweihen in Baden per Dekret einheitlich auf einen Oktober?Sonntag gelegt wurden. Dem „wochenlangen Müßig-Gang von Kirchweih‘ zu Kirchweih'“ wurde so elegant ein Ende gesetzt.
Eine Hauptrolle in der kurpfälzischen Kerwetradition spielt die Kerweschlumpel. Mit ihr wurde (und wird in manchen Dörfern noch immer) seit altersher die Kerwe eröffnet. Ein Kerwepfarrer und seine Kerweborscht brachten sie zu einer, einem Wirtshaus nicht unähnlich „Kapelle“. Dort wurde sie für die Dauer der Kerwe in luftiger Höhe aufgehängt.
Dabei war ständige Wachsamkeit von Nöten, denn die „Borscht“ (Burschen) aus den Nachbarorten warteten nur auf eine günstige Gelegenheit, die Kerweschlumpel zu entführen. Reichlich Alkohol musste dann als Lösegeld fließen. Mit der Verbrennung der Kerweschlumpel fand das Kerwetreiben normalerweise am Montagabend sein Ende.
Berühmt-berüchtigt und beliebt zugleich war auch der Kerwetanz in den Wirtschaften Hockenheims, wo die Tanzböden auf Hochglanz poliert waren. Auch die Jugend widmete sich intensiv dem eigenen Erscheinungsbild, denn die Kerwe galt lange Zeit als beliebter Heiratsmarkt. Alle erdenkliche Vorsicht war deshalb bei der Wahl des Tanzpartners geboten. Wer einmal zusammen getanzt hatte, galt fortan als Brautpaar.
Kerwe war zugleich auch ein Fest der ganzen Familie. Auf das gute Essen war die Hausfrau besonders stolz – vor allem dann, wenn einmal die „Städter“ unter der Verwandtschaft zu Besuch kamen, musste schließlich gezeigt werden, das man sich auch was leisten konnte. Dabei durfte der Kerwekuchen, meist ein dünner Hefekuchen mit Äpfel oder Zwetschgen belegt, nicht fehlen.
Da in den meisten Häusern noch nicht selbst gebacken werden konnte, durften die Kinder den Kuchen zum Bäcker tragen. Diese hatten dies gar nicht gern, denn die „Brieh“, die dabei aus den Backöfen herauslief, musste hinterher immer wieder zeitaufwendig abgewaschen werden.
Den Kerwefreuden konnte aber nur derjenige gelassen entgegensehen, der auch über das notwendige Kleingeld verfügte. Beliebte Einnahmequelle war zum Beispiel das Sammeln von Alteisen, das beim Lumpensammler gegen Bares eingetauscht wurde. Dass sich selbst Mist zu Geld machen ließ, bewiesen bereits um 1880 die „Knoddelbuuwe“. Im „Knoddelkarre“ wurden die tierischen Ausscheidungsprodukte eingesammelt und vor allem zu den Gießereien auf die Rheinau gefahren, die das dunkle Brennmaterial entsprechend versilberten.
Umgesetzt wurde der Lohn dann an den zahlreichen Buden, Ständen, Karussells mit Pferden und Schwänen, Schiffschaukeln und den „Gutselständen“. Lange Menschenschlangen bildeten sich meist an „Nelle’s Kinematograph“, wo den staunenden Hockenheimern erstmals die Geheimnisse des Filmes vorgestellt wurden.
Kein Wunder, dass die ländliche Kerwe schon immer die Städter anzog. So ein Sonntagsausflug durch herbstliche Wiesen und Felder hinaus aufs Land füllte viele Zugwaggons, aber auch mit Pferdekutschen oder Ochsenfuhrwerken kamen die Besucher in das badische Landstädtchen.
Während des ersten Weltkrieges fiel die Kerwe aus, und auch danach erwachte die alte Tradition nicht nur in Hockenheim nur sehr zögerlich wieder zum Leben. Und nach 1945 schien die alte Tradition gar ganz eingeschlafen zu sein.
Doch zu Beginn der 60-er Jahre erwachte die Kerwe wieder aus ihrem Dornröschenschlaf. Landauf, landab erinnerten sich Heimat? oder Kerwevereine, Gesangs? oder Musikvereine an den einst so beliebten Brauch.
Heute gehört die Kirchweih in der Rennstadt zum Jahresablauf wie Fastnacht, Ostern oder Weihnachten. Ein gutes Stück kurpfälzische Tradition lebt so auch in Hockenheim weiter, wenn heute um 14 Uhr auf dem Marktplatz das erste Fass Festbier angestochen und so das wohl volkstümlichste aller Feste eröffnet wird. (og)