Wer kennt schon die Kraich?
26.05.60 (Landschaft & Orte)
Ein Gau zwischen Neckar und Oberrhein trägt ihren Namen
Der Kraichgau ist dadurch berühmt, daß nur wenige Touristen ihn wirklich kennen. Die meisten Reisenden, die sein westliches Randgebiet auf eiliger Nord-Süd-Fahrt streifen, wissen nicht einmal den Namen der idyllischen Parklandschaft zwischen Oberrhein und Neckar.
Wenn auch die Kraniche im Frühling und Herbst gelegentlich über den Kraichgau ziehen, so verdankt das Gebiet doch nicht ihnen seine poetisch klingende Bezeichnung. Die Kraich ist ein kleiner Fluß, der westlich von Schwetzingen sich heimlich mit dem Rhein vermählt.
Wer einmal in Leimen weilte, dem von Heidelberg aus mit der Straßenbahn zu erreichenden Winzerdorf, oder einer Panne wegen zufällig in Wiesloch übernachten mußte, fragt sich verwundert, warum so viele Herrenfahrer am Steuer schnittiger Automobile auf diesem Abschnitt der Bundesstraße Nr. 3 ihren Ehrgeiz mit gewagten Überholungsmanövern befriedigen. Haben sie keine Zeit für einen Spaziergang nach den Aprikosen- und Pfirsichplantagen, wäre es nicht erholsamer gewesen, eine Tagesrast in Nußloch einzulegen, wo der von heißer Sonne am Baum „gekochte“, in örtlichen Betrieben nach traditionellen Rezepten gebrannte Zwtschengenschnaps einen kritischen Vergleich mit dem bosnischen Slibowitz nicht zu scheuen braucht?
Heilende Schwefelquellen entspringen in Bad Langenbrücken und Mingolsheim, wo zwar keine Kurorchester mit Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“ die Prozedur des schluckweisen Brunnentrunks untermalen, aber kundige Ärzte die Patienten im Gebrauch der Vollbäder gut beraten. Mancher Rheumatiker wanderte nach kurzer Zeit mit ausholendem Schritt in den nahen Kleinen Odenwald, und Ischias kann den gesunden Gast nicht mehr plagen.
Wo Tabakpflanzen reifen, neuerdings auch Paprikaschoten ein Rendevous mit der Sonne feiern und blühende Oleandersträuche ihren südlichen Duft in der Sommernacht verströmen, sind alle Voraussetzungen für eine günstige „psychische Umstimmung“ gegeben. Auch Bad Rappenau und Bad Wimpfen profitieren von der Heiterkeit der Landschaft. Denn nach den Erkenntnissen der modernen Medizin hängt die Heilung des Bronchialasthmas und chronischer Katarrhe oft von der „Sanierung der Seele“ ab.
Im Kraichgau finden sich zahlreiche Sehenswürdigkeiten, die von der großen geschichtlichen und kulturellen Vergangenheit Nordbadens Zeugnis ablegen. Das Schloß zu Bruchsal – ein Phoenix aus der Asche des zweiten Weltkrieges – entzückt nach der Restaurierung durch das einmalige Duett von Barock und Rokoko. Und auch Bretten, der Geburtsort des „humanistischen Reformators“ Melanchton, hat wieder ein harmonisches Stadtbild, in dem die mittelalterlichen Fachwerkbauten mit neuen Farben prangen. Durch ein romantisches Tal führt am stillen Klostersee entlang der Weg nach Maulbronn, der erhaltenen tausendjährigen Klosterstadt, die in den Reiseführern vieler Länder mit drei Sternen bedacht wurde.
Wehrmauern und ein breiter Wallgraben umgeben die Burgruine des Luftkurortes Stein, wo die Kraichgauhügel in die Ausläufer des nördlichen Schwarzwalds übergehen. Wer möchte die Behauptung der Winzer von Sulzfeld anzweifeln, daß ihr um den Bergkegel der Ravensburg gelesener Rotwein feuriger als ein Burgunder sei? Selbst in Hilsbach unterhalb des Steinsberges (333 m) wachsen die Reben. Weingarten heißt ein verträumter Ort, dessen gemütliche Gasthöfe zur Einkehr verlocken. Dort unterscheiden schon die feinen Zugen der halbwüchsigen Winzersöhne zwischen dem vollen Ruländer, dem würzigen Sylvaner und dem berauschenden Riesling. Jetzt wird auch der naturbelassene 1959er Tropfen der Müller-Thurgau-Rebe auf Flaschen gefüllt, mit der letzten Finesse solcher Kellermeister durchgegoren, die so ehrgeizig und anspruchsvollen Lobes durstig sind wie Bildhauer der Antike.
Viel Ruhe gibt es in Königsbach, Eppingen und Schwaigern, wo im alten Gefängnisturm die „letzte Hexe“ Württembergs gefangen gehalten wurde. Ob sie auf dem nahen Heuchelberg ihre Künste nach der Begnadigung fortsetzte oder sich nur sonnte, weiß man nicht. Sinsheim – das Zentrum des Kraichgaus – beherbergt im historischen Rathaus eine sehenswerte Puppensammlung. Mit echt badischem Humor verwahren sich die Ratsherren gegen den Gedanken, auch sie könnten Marionetten des Bürgermeisters sein.
Staubfreie Wiesen, kühle Wälder, murmelnde Bäche – jetzt wird das Wandern in den Kleinen Odenwald auch des Managers Lust. Waibstadt bleibt zurück, die ehemalige freie Reichsstadt, und Eschelbronn, das „Schreinerdorf“, dessen Tischlermeister ihre Qualitätserzeugnisse auch nach Übersee exportieren, lädt zur Rast ein. Im Schloßpark von Neckarbischofsheim singen die Nachtigallen – ohne Stargagen zu verlangen. Die Edelkastanien der alten Bergfeste Dilsberg am Königsstuhl spenden willkommenen Schatten, bevor der Wanderer zum Neckar hinuntersteigt, um ein erfrischendes Bad zu nehmen. Um preiswerte Quartiere – drei Mark für das Privatzimmer und etwa neun Mark für die Vollpension in gutbürgerlichen Gasthöfen – braucht man sich keine Sorgen zu machen. Im Kraichgau sind noch Zimmer frei …
Aus:
DIE WELT – Albert Neumann – 26./27. Mai 1960